Texts

Dr. Marlene Lauter
Städtische Galerie Würzburg

Sehstücke — Eröffnungsrede am 3.2.1995

Es geht kantig zu bei unsrer neuen Ausstellung; Winkel und Ecken prägen die Objekte der Künstlerin. Möglicherweise war aber Ihr erster Eindruck gar nicht so sehr auf die Formen selbst gerichtet, sondern Sie haben vielleicht befriedigt festgestellt, daß nach einem an Ungewohntem reichen Jahr endlich wieder Bilder in einer Ausstellung der Städtischen Galerie an der Wand hängen. An der Wand hängen sie, die Arbeiten von Doris Erbacher; ob es sich um Bilder handelt, ist noch zu untersuchen. Leinwand ist jedenfalls nicht im Spiel, hingegen Holz, das zu den klassischen Bildträgern der alten Kunst zählt. Damals allerdings wurde das Holz zu mehr oder weniger dünnen Brettern verarbeitet, Erbachers Hölzer sind teilweise mehrere cm dick. Malgrund sind sie allein wohl nicht, auch keine Reliefs mit unterschiedlichen Höhen, eher feste Körper, die mit der Farbe auf der Frontseite ein Wechselspiel eingehen. Die plastische, schattenbildende Wirkung der Hölzer nämlich, insbesondere bei den Exemplaren, deren Kanten abgeschrägt sind, holt die Farbe auf raffinierte Weise wieder ein Stück in die Fläche zurück. Doris Erbachers profunde Kenntnis der räumlichen Wirkung von Farben zeigt sich an der Feinheit der Töne der versammelten Objekte. Sie hat es dabei auch nie gescheut, bei den alten meistern etwa der Frührenaissance optische Erfahrungen zu sammeln. Wie etwa auf Bildern von Piero della Francesca durch gegeneinander gesetzte Farben Räume erzeugt werden , geht in den gedanklichen Hintergrund ihrer eigenen Arbeit ein. Sie weiß, wie sie die Nuancen bestimmen und kombinieren muß, um dem Auge ständige Fragen zu stellen. Uns ist klar: helle Farben kommen nach vorne, dunkle ziehen sich zurück, doch wenn wir beispielsweise „visit 2” betrachten, eine Arbeit, die auf Einladungskarte und Plakat abgebildet ist, so gerät diese Tatsache ins Wanken. Sicher dominiert das Rot den ersten Eindruck, aber drängt sich nicht das Anthrazit an der vertikalen Kante oben in der Mitte nach vorn? Legt es sich nicht beinahe um das Rot herum? Ursache ist die trickreiche Verschränkung von Form-Farben oder Farbflächen. Die Konturen der Formen verhalten sich gegen die Seherwartung; die einmal begonnenen Richtungen werden mit dem Wechsel der Farben gebrochen. So bei dem genannten „visit 2” dort, wo unten in einem stumpfen Winkel Anthrazit und Rot aneinanderstoßen. Wandert der Blick zum oberen Blaurand, so erwartet er unten ein schräg unter dem Rot hervorlugendes Anthrazit. Konzentriert er sich auf die schräge Anthrazitkante unten links, so ist er versucht, eine Tiefenerstreckung der vorderen Rotfläche darin zu sehen, bis ihm die Wahrnehmung der leicht schrägen vertikalen Trennungslinie zwischen Anthrazit und rot einen Strich durch die Deutung macht.

Die Flächen wechseln die Fronten; die beiden Farben Anthrazit und rot können je nach Blickeinstellung beide nach vorne kommen. Phänomene dieser Art beschäftigen Erbacher seit langem. Ihre Objekte sind ausdauernde Wahrnehmungstäuscher, Trompe l´oeils der anderen Art. Kanten, Linien, Umrisse sind neben der Farbe die Erzeuger optischer Unruhe und Ambivalenz. Linien lassen sich als Positiv- und Negativform darstellen, negativ durch feine Schnitte in Holz oder Faserplatte. Eine Linie genügt, um Ebenen zu trennen, einen Horizont zu bilden oder, als Diagonale, Perspektive anzudeuten. Linien können gezogen werden oder durch des Aneinanderstoßen unterschiedlich farbiger Flächen gebildet. Linien definieren auch Zwischenräume zwischen Objektensembles, die mit der Wand eine Symbiose eher als eine Figur-Grund-Beziehung eingehen. Sie bilden zarte unvollständige Rechtecke, die in den Zwischenräumen der Formen ganz werden. Ein Spruch Laotses kommt einem in den Sinn: „Dreissig Speichen treffen die Nabe, aber das Leere zwischen ihnen erwirkt das Wesen des Rades”. So richtete sich Erbachers Arbeit über lange Zeit auf Reduktion. Begonnen hatte sie durchaus im Traditionellen, absolvierte in den 70er Jahren ein Kunststudium an der Akademie in Stuttgart, arbeitete gegenständlich. Dabei entwickelte sie Möglichkeiten, Figürliches in die Fläche zu klappen und die Linie als freies Element aus der Fläche herauszulösen.

Der Torso von 1988 zeigt das Prinzip. Seine Form ist nur angedeutet; unsere Wahrnehmungstendenz, Ganzheiten zu sehen, fügt auch hier die Teile optisch zusammen und macht aus dem linearen rechten Bein ein Ganzes – ein Spielbein, in ironischer Erinnerung an den klassischen Kontrapost. Beim Torso sind gerundete Elemente mit im Spiel, beides hat Erbacher inzwischen aus ihrem Formenrepertoire herausgenommen. Das Runde ist ihr mittlerweile zu wenig entschieden, der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende, Erbachers Ziel aber ist, Verlaufe zu realisieren, Vorgänge, die sich ausbreiten, die Richtungen anzeigen. Um 1988 begannen die Versuche mit Holz. Am Anfang standen Materialerprobungen, in denen sie sich von den Eigenschaften, Maserungen, Schichtungen des Holzes faszinieren ließ. Das „Rasenstück” in unserer Ausstellung vertritt diese Zeit. Die Künstlerin erprobte Linien als Ergebnis der Sägebewegungen im Holz, ließ die Bewegungen des Armes sich als dynamische Spur im Holz abbilden, tauchte das Brett anschließend in Farbe. Dieses Biegsame der Bewegung ist in den neueren Objekten verschwunden. Doch die Geradlinigkeit der an ihrer Stelle getretenen Linien ist nicht gemessen.

Doris Erbacher betreibt keine angewandte Geometrie. Winkelverhältnisse werden von ihr nach optischen Erfahrungswerten festgelegt. Da ein 90° Winkel als Flächenverhältnis für Ausgleich sorgt, 45° Winkel auch noch relativ ausgewogen sind, sucht sie im praktischen Erproben die spannenden Zwischenwerte, bei denen die entstehenden Flächen nach vorne und nach hinten zu gehen scheinen. Das unterscheidet ihre Arbeiten etwa von den „Strukturalen Konstellationen” Josef Albers, die Eugen Gomringer „sparsame Konstellationen” genannt hat. Es sind Gravuren in schwarzen Resopal- oder anderen Kunststoffplatten, bei denen Kanten mehrdeutig sind, Flächen in ihrer Zuordung zum Raum variieren, sich auf einen Blick auffalten, um sich im nächsten Moment wieder zu verschließen. Die Werke folgen einem kalkulierten System, Erbacher hingegen ihrem Augenmaß. Hingegen verbindet sie mit Albers die Zugehörigkeit zu den Konkreten, einige Generationen jünger als der Bauhauslehrer und wie er sich auf Form-Farbrelationen konzentrierend.

Ihre Objekte entwirft sie auf dem Papier und überträgt sie dann auf das Holz, Papier ist daneben auch eigenständiges Medium ihrer Arbeit, wie die Beispiele auf der Wand rechts vom Eingang belegen.

Sie ist eine Künstlerin des kleinen bis mittleren Formats, metergroße Flächen gibt es bei ihr nicht. Bei den vorbereitenden Gesprächen für diese Ausstellung haben wir gemeinsam die Möglichkeit einer Einbeziehung der Stützen dieses Raums in das Konzept erörtert, in dem Sinne, daß Malerei direkt auf die Stützen aufgetragen worden wäre. Doch da diese Werke mit dem Ende der Ausstellung verloren wären, haben wir die Idee verworfen. Man mag das bedauern und ihr in Zukunft wünschen, wie Günther Förg in Frankfurts Museum für moderne Kunst eine ganze Wand für Malerei zu erhalten. Förg hat das Treppenhaus dort mit seinem Orange und Blau gefüllt – doch muss man andererseits feststellen, dass ihren Objekten nichts abgeht. Die Größen ihrer Arbeiten sind zumeist auf das menschliche Sehfeld bezogen, Ausschnitte, die das Auge ohne Hin- und Herwandern zunächst einmal erfassen kann. Trotz des kleinen Formats dehnen die Arbeiten ihre Mächtigkeit auf große Wandbereiche aus. Sie brauchen viel Platz, umso mehr dann, wenn Holzobjekte gemeinsam ein optisches Konzert aufführen und ihre Flächenhaftigkeit und Tiefe gegenseitig steigern.

Sind Kanten und Umrisse technisch ohne Spuren gesetzt, so „erzählen“ die Farbflächen vom handwerklichen Vorgang. Die Farben aus Pigment und Kunstharzbinder selbst gefertigt, sind in Schichten aufgetragen, manchmal wieder abgeschmirgelt, neu aufgetragen usw. So verbinden sich Holz, Pinselstrich, Schmirgelspuren und gelegentlich holzsichtige Partien und schaffen Richtungen und samtartige Tiefe.

Sie verleiten zum Näherkommen, hat man dies und konzentriert man sich auf die Oberfläche, so verschwinden die räumlichen Effekte der Farbe. Geht man wieder zurück, so treten die Klappwirkungen wieder in Erscheinung, doch die malerischen Effekte der Oberfläche werden unsichtbar. So hält die Künstlerin den Betrachter trotz kleinem Format in Bewegung und überlässt ihm die Qual der Wahl verschiedener Wahrnehmungsweisen.

Auch bei ihren Arbeiten auf Papier strapaziert sie die Oberflächen, legt Schichten an, schmirgelt sie ab, bis das Papier „steht“ und Materialcharakter bekommt. Es ist deshalb sehr bedauerlich, dass die Arbeiten aus konservatorischen Gründen hinter Glas gezeigt werden müssen. Die Oberfläche würde zu sehr zum Anfassen verleiten.

Robert Musil schrieb 1900 in sein Tagebuch „Drehen wir einmal so viel als möglich die Dinge um“. Doris Erbacher hat dieses Vorgehen praktiziert. Eine Einladung an Sie, meine Damen und Herren, es – geistig – mitzutun.

Dr. Marlene Lauter

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